Das sizilianische Abenteuer.

Die Sonne brennt vor 100 Jahren über der Madonie, dem Küstengebirge im Norden von Sizilien. Traumhaft erstreckt sich die Landschaft vor dem Auge, bildet ein mediterranes Panorama mit karstigen Gipfeln und schattigen Wäldern. Doch für diese Schönheit haben die Männer keinen Blick, die im Sommer 1921 ihre Rennwagen im rasenden Tempo über die schmalen und zumeist unasphaltierten Bergstraßen steuern. Sie fahren die Targa Florio, das legendäre Straßenrennen auf der Insel ganz im Süden Italiens. Ausgetragen wird es von 1906 bis 1977.

Fahrer und Kopiloten konzentrieren sich ganz auf die kurvenreiche Strecke. Oft führt die Route an Abgründen entlang. Immer wieder wechseln sich steile Steigungen mit schwierigen Abfahrten. 108 Kilometer lang ist der Rundkurs, der in dieser Form von 1919 bis 1930 gefahren wird. Auf der Strecke liegen Dörfer und Städtchen mit Namen, die damals für deutsche Ohren wohl märchenhaft klingen: Caltavuturo und Campofelice, Cerda, Collesano und Polizzi.

Schnellste Runde unter der Sonne Siziliens: Max Sailer und sein Beifahrer Hans Rieger im Ziel der Targa Florio 1921.

Der Mercedes 28/95 PS Sport ist das erste Automobil der Daimler-Motoren-Gesellschaft mit Vierradbremse. Durch die Drahtspeichenräder des Targa-Florio-Rennwagens 1921 sind die Trommelbremsen an Vorder- und Hinterachse gut sichtbar.

Mercedes fährt um den Sieg.

Doch der brausende Tross aus Rennwagen und Serienfahrzeugen hält auf keinem der malerischen Marktplätze. Immer weiter geht die Fahrt. Insgesamt viermal muss der Rundkurs absolviert werden: jedes Mal rund 1.500 Kurven und 800 Meter Höhenunterschied. Vom „schwierigsten Rennen des Jahres“ schreibt denn auch die Allgemeine Automobil-Zeitung Wien über diese Targa Florio vor 100 Jahren. Kräftezehrend ist das Rennen für die Teams in den Fahrzeugen, packend ist es für die vielen Zuschauer am Streckenrand.

Ganz vorn im Feld liegt bei der Targa Florio 1921 der Mercedes-Werksrennfahrer Max Sailer in seinem Mercedes 28/95 PS Sport. In 7 Stunden, 27 Minuten und 16,2 Sekunden bewältigt er mit seinem Beifahrer Hans Rieger die Strecke. Das entspricht einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 57,9 km/h. Nur ganz knapp verpasst das Team den Sieg. Stattdessen: schnellste Rundenzeit, Klassensieg der Tourenwagen über 5 Liter Hubraum und Platz 2 der Gesamtwertung.

Deutliches Plus an Bremsvermögen.

Schuld am verpassten Gesamtsieg sind zahlreiche Reifenpannen. Sie werden durch Hufnägel ausgelöst, verloren von Zugtieren landwirtschaftlicher Gespanne auf der unbefestigten Piste. So heißt es in einer Nachricht der damaligen Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG): „Sailer musste neunmal Gummi wechseln, während der mit nur zwei Minuten vor ihm angekommene absolute Sieger der Targa auf einem Spezial-Fiat-Rennwagen nicht einen einzigen Reifendefekt hatte.“ 

Abgesehen von den Reifen ist Sailers Rennfahrzeug unter diesen Extrembedingungen jedoch extrem verlässlich. Insbesondere eine Innovation zeichnet den Mercedes 28/95 PS Sport aus: Er ist das erste mit Vierradbremse ausgerüstete Fahrzeug der DMG. Das verschafft ein deutliches Plus an Bremsvermögen und damit Fahrsicherheit. Seine Zuverlässigkeit hat der Wagen schon bei der Anreise nach Sizilien bewiesen. Die legt das Team nämlich auf eigener Achse zurück – rund 2.000 Kilometer weit sind es von Stuttgart bis auf die Insel an der Spitze des italienischen „Stiefels“.

Der deutsche Rennfahrer wird für seine Leistung vom Sizilianischen Automobil-Club mit einem Pokal für den „Ersten in der Serienklasse“ ausgezeichnet. Gestiftet hat den Preis der italienische Industrielle Vincenzo Florio, der Namensgeber der Targa Florio.

Zurück in Stuttgart werden Sailer und Rieger im Werk festlich empfangen, und dieser Pokalgewinn wird groß gefeiert. Denn für Mercedes ist die Targa Florio 1921 eines der ersten international bedeutenden Rennen, an dem die Marke nach Ende des Ersten Weltkriegs teilnimmt.

Der Klassensieg im Jahr 1921 ist der erste von wichtigen Erfolgen von Mercedes und später Mercedes-Benz bei der Targa Florio: Im Folgejahr 1922 siegt Graf Giulio Masetti auf einem weiterentwickelten Mercedes 115 PS Grand-Prix-Rennwagen, und Max Sailer gewinnt die Klasse der Tourenwagen über 4,5 Liter Hubraum mit einem Mercedes 28/95 PS mit Kompressoraufladung.

Christian Werner im Mercedes 2-Liter-Rennwagen mit Kompressormotor auf dem Weg zum Sieg bei der Targa Florio 1924.

Im roten Mercedes bei der Targa Florio 1924 zum Sieg.

Ebenfalls legendär ist der Triumph von Christian Werner im Jahr 1924 mit einem Mercedes 2-Liter-Rennwagen mit Kompressor. Das Fahrzeug ist zu Tarnzwecken rot lackiert – der typischen Farbe italienischer Wettbewerbsfahrzeuge. Das soll die einheimischen Fans von Störaktionen gegen den deutschen Rennwagen abhalten.

Bei der Targa Florio 1955 schließlich gewinnen der im vergangenen Jahr verstorbene Stirling Moss und Peter Collins im 300 SLR Rennsportwagen (W 196 S). Dahinter kommen ihre Teamkollegen Juan Manuel Fangio und Karl Kling auf Platz 2 ins Ziel. Dieser Doppelsieg macht die Sportwagen-Weltmeisterschaft 1955 für Mercedes-Benz perfekt.

Aus dem Motorsport in die Serie.

Der Mercedes 28/95 PS Sport ist die Weiterentwicklung des 1914 vorgestellten, leistungsfähigen Luxusfahrzeugs Mercedes 28/95 PS. Für den Renneinsatz 1921 wird der Typ so gründlich modifiziert, dass er nun als eigenes Modell den Zusatz „Sport“ erhält. Zu den Verbesserungen gehören neben der Vierradbremse eine stärkere Motorleistung, ein verringerter Radstand für bessere Wendigkeit sowie der tiefere Einbau von Kühler und Fahrersitz.

Ab Juni 1921 wird der 28/95 PS Sport – und damit auch die auf alle vier Räder wirkende Bremse – ins reguläre Verkaufsprogramm aufgenommen. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Rennsport einer neuen Technologie im Automobil den Weg bereitet. Ab 1923 stattet die DMG auch die Serienausführung ihres damaligen Topmodells 28/95 PS mit der sogenannten „Allradbremse“ aus. 

Mercedes 28/95 PS Sport mit Phaeton-Aufbau. Das leistungsfähige Luxusfahrzeug gehört zu den Wegbereitern der Mercedes-Benz Kompressorwagen der S-Reihe in den 1920er- und 1930er-Jahren.

Empfang im DMG-Werk Untertürkheim für das erfolgreiche Team Sailer/Rieger nach der Targa Florio 1921. Die rund 2.000 Kilometer nach Sizilien und auch wieder zurück legen sie in ihrem Rennwagen auf eigener Achse zurück.

Vierradbremse wird Serientechnik.

Mit der Zeit setzt sich die Vierradbremse weltweit im Automobilbau als Standard durch. Am Anfang erstaunt der Unterschied zur bislang verbreiteten, nur auf die Hinterachse wirkenden Bremse: Wegen der starken Bremswirkung wird Mitte der 1920er-Jahre in Deutschland sogar über ein entsprechendes Warnzeichen am Fahrzeugheck diskutiert, um andere Verkehrsteilnehmer rechtzeitig zu informieren.

Auf die Premiere der Vierradbremse vor 100 Jahren im Mercedes 28/95 Sport folgen zahlreiche weitere Meilensteine in der Bremstechnik von Mercedes-Benz. Sie gehören zur langen Erfolgsgeschichte der Sicherheitsentwicklung der Stuttgarter Marke: von vor 100 Jahren bis in die Zukunft. 

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